Die Algarve und die sympathischere Form der Barrierefreiheit
Das Ende des Jahres 2011 stellte für mich einen gravierenden Einschnitt dar. Nach einem Multi-Organversagen im November 2011 musste ich von den verantwortlichen Ärzten der Intensivmedizin der Berliner Charité in ein künstliches Koma gelegt werden – für vier Wochen, wie sich später herausstellte. Als ich wieder wach wurde, hatte ich nach Notoperationen beide Unterschenkel verloren. In den folgenden Monaten lernte ich, mich über kürzere Strecken mit Prothesen zu bewegen. Bei längeren Strecken (mehr als etwa 400 m) bin ich auch heute noch auf einen Rollstuhl angewiesen.
Nach diesem Einschnitt habe ich ab 2013 begonnen, die Algarve aus für mich ganz neuen Blickwinkeln kennen zu lernen.
Warum erzähle ich Ihnen das?
Ich möchte Sie gerne etwas mehr über die Perspektiven wissen lassen, die vor noch gar nicht allzu langer Zeit und die heute meine Wahrnehmung der Algarve bestimmt haben und bestimmen.
Früher – ich nenne die Zeit vor 2012 jetzt der Einfachheit halber so – habe ich die Algarve sehr häufig und vor allem alleinreisend besucht. Seit 2013 bin ich auf die Begleitung meiner Lebensgefährtin angewiesen, die als ganztags arbeitende Ärztin nur zu vorab definierten Urlaubszeiten reisen kann. Sie unterstützt mich dabei, mein Mobilitäts-Handicap so auszugleichen, dass ich nicht nur auf "behindertengerechte" Orte und Einrichtungen beschränkt bin.
Portugal: ein Land mit einem traditionelleren sozialen Verständnis
Ein erstes, sehr prägendes Erlebnis als "Neu-Rollstuhlfahrer" in Deutschland fand an einem barrierefreien U‑Bahnhof in Berlin statt. Ein sehr guter Freund hatte mich auf meinen Wunsch hin mit meinem Rollstuhl an einem als barrierefrei ausgewiesenen U‑Bahnhof in Charlottenburg abgesetzt. Ich rollte mit meinem brandneuen Aktiv-Rollstuhl (handgetrieben) zum Aufzug des Bahnhofs und fuhr zur Etage, die als "U" gekennzeichnet war.
Dort angekommen, rollte ich zur Mitte des von mir gewählten Bahngleises und wartete auf den nächsten Zug. Der kam nach wenigen Minuten, fuhr ein und hielt. Ich rollte auf die nächste Tür des Zugs zu – um festzustellen, dass zwischen Bahngleis und Boden des Zugs gut 20 cm Höhenunterschied lagen, die ich unmöglich alleine überwinden konnte.
Es dauerte vier weitere Züge, bis ich festgestellt hatte, dass an dieser U‑Bahn-Station offensichtlich keine Züge einer moderneren Baureihe mit tiefer liegenden Fußböden vorbei kommen würden.
Meine Hoffnung, dass irgend ein hilfreicher Bahnfahrer mich in meiner Hilflosigkeit ansprechen würde, wurde in diesen ungefähr 20 Minuten bitterlich enttäuscht.
Meine Rettung kam in Gestalt von drei deutlich durch mit neonfarbenen Arbeitswesten und mit großen BVG-Aufdrucken gekennzeichneten Mitarbeitern der Berliner Verkehrsbetriebe. Ein "…noch nicht sehr lange im Rolli, wa?!" machte das schnelle Verständnis für die Situation klar.
Gott sei Dank erklärten mir die Drei gleich im Anschluss, wie ich mich als Rollstuhlfahrer sinnvollerweise verhalten sollte: immer an den ersten Wagen in Fahrtrichtung, warten bis der Fahrer des Zuges aussteigt und ein Blech als Rampe anlegt, mich in den Wagen schieben lassen und abschließend dem Zugführer sagen, wo ich aussteigen möchte – damit der Zugführer an eben jener Station das Procedere wiederholen kann.
In Portugal spielen sich vergleichbare Situationen etwas anders ab.
Einerseits sind längst nicht so viele Wege und Einrichtungen so behindertengerecht, wie wir dies aus Staaten Mitteleuropas und Nordeuropas kennen. Andererseits genießen ältere und behinderte Menschen in Portugal und Teilen der Algarve eine ganz andere Form des Respekts und der Empathie.
Bei unseren Ausflügen nach Portugal stoßen meine Lebensgefährtin und ich immer wieder auf kleine und größere Hindernisse, die viele Menschen ohne Handicap vermutlich gar nicht als "Hürde" wahrnehmen. Ich habe hohe Bordsteinkanten früher auch nicht als Hindernis registriert.
Aber die wie immer liebenswürdigen und hilfsbereiten Menschen in Portugal eilen eher einmal zu viel als einmal zu wenig zu Hilfe. Und bislang habe ich in Portugal noch nie die Erfahrung gemacht, dass ein Mensch meiner Bitte um Hilfe ausgewichen ist – anders als in Deutschland.
Unpersönliche Barrierefreiheit ist auch eine Frage des Geldes
In Mitteleuropa haben sich die Generationen, die nach 1950 geboren wurden, verstärkt um die Integration von Behinderten in das Leben kommunaler Gemeinschaften gekümmert. Erst ab den siebziger und achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurde das Thema Barrierefreiheit in die Bauordnungen und andere kommunale Vorschriften aufgenommen.
Im vom Wohlstand deutlich weniger verwöhnten Portugal folgten die entsprechenden Schritte der Gesetzgebung und der Verwaltung erst etwa zwei Jahrzehnte später. Die Gründe dafür liegen sowohl in deutlich intakteren Familien, die mehr Verantwortung für ältere, kranke und behinderte Familienmitglieder übernommen haben und übernehmen.
Darüber hinaus bemühen sich viele Ältere und Behinderte in Portugal, sich so lange wie möglich eigenständig und mit so wenigen Hilfsmitteln wie möglich zu bewegen. Rollatoren und Rollstühle sind bei vielen älteren Portugiesen eher verpönt, stattdessen nutzen viele Ältere lieber einen Gehstock.
Diese Unterschiede zwischen den deutschsprachigen Regionen Mitteleuropas und Portugal haben selbstverständlich auch viel mit den finanziellen Ressourcen der jeweiligen Gesellschaft zu tun.
Sehr wohlhabende Volkswirtschaften wie die Schweiz, Luxemburg, Österreich und Deutschland, die sozio-demografisch zu den ältesten der Welt zählen, haben nicht nur die Notwendigkeit sondern auch Möglichkeiten, die Leitlinien von Barrierefreiheit mit Intensität umzusetzen.
Das von der Bankenkrise nach wie vor gebeutelte Portugal hat zwar Barrierefreiheit als essenziellen Bestandteil der Zukunftsplanung – und auch explizit der Tourismusplanung – definiert, aber nachdem die Budgets für die Entwicklung des Fremdenverkehrs für die nächsten Jahre sehr zusammengestrichen worden sind, sind flächendeckende Maßnahmen und Bauten der kommunalen, regionalen und nationalen Infrastruktur in der näheren Zukunft nicht zu erwarten.
Aber immer mehr touristische Dienstleister achten mittlerweile darauf, dass sie ihre Produkte und Leistungen barrierefrei gestalten.
Und die Menschen an der Algarve werden Ihnen immer mit einem Lächeln über die Hürden hinweghelfen, die sich leider nach wie vor an vielen Stellen finden.
Wir werden das Thema Barrierefreiheit in der näheren Zukunft wieder aufgreifen.
Bis bald,
herzlich
Ihr
Alexander Kroll
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